"Das Superhirn in Friedenau"

Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion des lokaljournals - Stadtmagazin für Friedenau - Ausgabe August 2015 - darf ich den sehr menschlich recherchierten Artikel von Juliane Last hier veröffentlichen.

Sehr persönlich geführtes Interview

Jens der Denker in Friedenau

Jens der Denker

Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion des lokaljournals - Stadtmagazin für Friedenau - Ausgabe August 2015 - darf ich den sehr menschlich recherchierten Artikel von Juliane Last hier veröffentlichen.

Jens der Denker lebte lange Zeit in Friedenau

Jens der Denker denkt. Hauptberuflich. Er ist Gedächtniskünstler, mehrfacher Weltrekordler im Schnellrechnen und Auswendiglernen, hat inzwischen acht Bücher zur Thematik veröffentlicht und hält Seminare über das Denken. Dort vermittelt er Techniken, wie man sich Dinge schnell und einfach merken kann. Ein Seminar zum „Namen merken“ ist dieses Jahr in, im letzten Jahr war es eher das „Schnelllesen“ oder „Speedreading“. Die Trends variieren, die Techniken dahinter bleiben stets ähnlich. Er selbst hat damit zum Beispiel den 30-bändigen Brockhaus auswendig gelernt.

Alles begann aus der Not heraus

Begonnen hat das extreme Denken bei ihm eigentlich aus der Not heraus. „Der Junge wird niemals laufen können“ ist einer der ersten Sätze, die Jens Seilers Eltern nach seiner Geburt im Jahr 1966 hören. Der Grund? Zwei völlig deformierte Füße, nach hinten gedreht, nicht einsetzbar. Schnell stehen die ersten Operationen an. Die Familie zieht nach Hessen, an der Uniklinik Frankfurt gibt es die Fachleute für einen solchen Spezialfall. Jeweils 16 Operationen pro Fuß, immer abwechselnd rechts und links im Abstand eines halben Jahres führen dazu, dass Jens Seiler die ersten 16 Jahre seines Lebens fast ausschließlich im Krankenhaus verbringt.

Soziale Kontakte hat er dadurch kaum. Er besucht in dieser Zeit keine Schule, ist zwar offiziell immer einer Klasse zugeordnet, erhält aber hauptsächlich Privatunterricht im Krankenhaus. Und er hat Langeweile: „Es gab keinen Fernseher auf dem Zimmer. Das ganze Computerzeug, Internet gab es sowieso noch nicht.“ Er beginnt zu lesen, saugt Wissen regelrecht in sich hinein. Mit ungefähr zehn Jahren entwickelt er ein Faible für Reiseberichte. Seine Klasse sammelt für ihn Comics und der Vater bringt ihm den großen Karton ins Krankenhaus. „Ich bin nicht an Comics interessiert“, ist der lapidare Satz des Jungen, „aber wenn ihr mir noch mehr Reiseberichte mitbringen könntet.“ Seine Mutter bricht daraufhin fast zusammen und befürchtet, dass ihr Sohn niemals eine normale Jugend haben wird.

Wissensdurst gegen Langeweile

Für die Eltern ist der enorme Wissensdurst ihres Kindes ungewöhnlich – sie stammen aus völlig normalen Verhältnissen, der Vater ist zunächst Berufssoldat bei der Bundeswehr, später Postbeamter und die Mutter arbeitet lange im Vertrieb einer Firma. „Ich weiß noch, dass erste, was ich gelernt habe, waren alle Hauptstädte dieser Länder und alle Nachbarländer der Länder“, erinnert sich Jens Seiler an die Anfänge des extremen Lernens. Wie auf Knopfdruck kann er sie bis heute wiedergeben.

Doch das reicht ihm nicht: „Ich habe immer überlegt, wie kann ich das besser lernen.“ Er entwickelt Lernmethoden, wie er in kurzer Zeit noch mehr Wissen aufnehmen kann. Später findet er diese Techniken in Fachbüchern wieder. Zunächst enttäuscht, dass es doch nicht seine Ideen waren, siegt dann der Stolz, bereits im Alter von zehn Jahren solche Methoden im Kopf gehabt zu haben.

Kurze, unschöne Schulzeit

Nach 16 Jahren ist er unfassbar gut im Lernen, aber sozial immer noch völlig isoliert. Als er dann in die zehnte Klasse kommt, ist es ein Alptraum: „Das war die Hölle. Ich wusste ja nicht, wie geht man mit anderen Kindern um, das war in der Pubertätszeit. Ich war in keinem Sportverein, ich war in keiner Disco gewesen.“ Er ist motorisch immer noch stark gehandicapt. Innerhalb der Schule bewegt er sich mit orthopädischen Spezialschuhen oder auf Krücken fort, den Rollstuhl benutzt er nur für längere Strecken.

Ein Klassenkamerad nimmt sich seiner an und bringt ihn durch die Schulzeit: „Ich habe einen sehr, sehr guten Freund gehabt, der mich regelrecht beschützt hat. Der hat mich immer abgeholt, hat gesagt, wir gehen auf den Bolzplatz, setz dich in deinen Rollstuhl, ich schiebe dich mit.“ Dadurch gestützt erträgt er die häufigen Hänseleien besser: „Ich hatte dann ja auch oft noch diese „Forrest Gump“-Schienen an und dann wurde ich einmal die Treppe hinuntergeschubst und dann „Forrest lauf“ geschrieen.“ Bis heute hat Jens Seiler Kontakt zu diesem Freund. Die vier Jahre bis zum Abitur ändert sich wenig an der Situation.

1986 kommt dann ein kleiner Wendepunkt. Jens Seiler, inzwischen in einer Ausbildung, wird Kandidat bei „Wetten dass...?“, kann besonders schnell rückwärts Schreibmaschine schreiben. Was zunächst als Scherz gedacht ist, weil ihm keiner glaubt, dass er sich wirklich bewerben will, wird schon nach vier Tagen Ernst. Ein Anruf und er ist zum Casting geladen. Er gewinnt in der Show seine Wette – und viele Freunde. Plötzlich ist er beliebt. Jens Seiler genießt das und merkt nicht, dass es den wenigsten wirklich um ihn geht: „Damals war das ja noch etwas absolut Sensationelles, da gab es noch kein RTL & Co. – jeder hat mit mir angegeben.“

Er hat sich zwischenzeitlich auf den Weg zu seinem damaligen Traumberuf Parlamentsstenograf gemacht. Natürlich hat er sich die Stenografie zuvor selbst beigebracht. Der Weg ist nicht einfach, doch die Jahre im Krankenhaus haben ihn gelehrt sich durchzubeißen. Beim Landratsamt in Groß-Gerau absolviert er zunächst die Ausbildung zum Stenosekretär, bildet sich danach in Stuttgart zum Europasekretär weiter. Während der eigentlichen Ausbildung zum Parlamentsstenografen lernt er jedoch in einer Mittagspause einen Jongleur kennen. „Der hat mich regelrecht angefüttert auf das Leben“, erinnert sich Jens Seiler. Der Künstler ermuntert ihn auf die Bühne zu gehen. Er macht ihm Mut, mit dem, was er kann, bekannt zu werden, ein Publikum zu finden und Applaus zu bekommen. Jens Seiler beendet zwar noch seine Ausbildung, doch dann geht es los. Er steht zunächst als Zauberer, später dann als Gehirnakrobat auf der Bühne. Die Menschen lieben ihn und endlich bekommt er die Aufmerksamkeit, die er in den ersten 16 Jahren seines Lebens so sehr vermisst hat. In diesen Jahren legt er sich auch seinen Künstlernamen „Jens der Denker“ zu. Mit seiner Gehirn- und Gedächtnisshow steht er weltweit erfolgreich auf der Bühne. Die Anwendung von Mnemotechniken, mit deren Hilfe er sich ganze Bücher, Wörterlisten oder Zahlenreihen merken kann, wird für ihn zur Sucht. Mit willkürlich herausgesuchten Einträgen aus dem Telefonbuch oder komplexen Zahlenfolgen überrascht er sein Publikum immer wieder. Was er als zehnjähriger Junge begonnen hat, perfektioniert er 20 Jahre später auf der Bühne.

Jens Seiler

Auf nach Berlin

Während all dieser Jahre hat er irgendwann von dem kleinen Ort Lauf im Schwarzwald, in dem er inzwischen lebt, genug. Er ist mittlerweile Vater zweier Kinder, die bei der Mutter leben. Der Kontakt zu ihnen ist gut und wird es sicher auch mit etwas mehr Abstand sein. 2010 zieht er mit seiner Frau in die Großstadt. „Ich hatte einfach die Nase voll vom Landleben.“ Nur durch Zufall wird es Berlin, er lernt bei einer Show jemanden kennen, der ihm hier ein Haus zur Miete vermittelt. Jens Seiler fackelt nicht lange und lässt das alte Leben im Süden zurück. Doch auch die Rummelsburger Bucht ist noch nicht sein Traumwohnort: „Da hätte ich auch im Schwarzwald bleiben können“, lacht er. Sie machen sich auf die Suche nach dem passenden Kiez: „Wir wollten ins Berliner Leben rein, aber irgendwie auch Ruhe haben.“ Boxhagener Platz, Paul-Linke-Ufer, Prenzlauer Berg – gefällt ihnen alles, doch es wird 2011 Friedenau.

Auch wenn er und seine Frau sich inzwischen getrennt haben, ist er nach der Auflösung der gemeinsamen Wohnung nur einige Straßen weiter gezogen. Dichter an den Breslauer Platz heran, was ihm sehr entgegen kommt, denn dort geht er mehrmals pro Woche zum Markt: „Ich koche jeden Tag frisch, also kaufe ich auch jeden Tag frisch ein“, erzählt er, „ich liebe den Wochenmarkt.“ Die Entwicklung des Breslauer Platzes sieht er jedoch eher mit Sorge und kann keine wirkliche Verbesserung erkennen: „Nach dem ewigen Hin und Her ist der Platz ja eigentlich nur neu gepflastert worden und die haben dort die Bänke aufgestellt. Wenn ich früh morgens aus meiner Wohnung komme, liegen da kaputte Flaschen und Dreck.“ Nichts halbes und nichts ganzes sei der aktuelle Zustand, meint er. Und dennoch, Friedenau ist der Ort, an dem er erst einmal bleiben möchte.

Jens der Denker läuft

Vor zwei Jahren hat er hier in Berlin einen Arzt gefunden, der erneut seine Füße operiert hat. „Der hat mir den Fuß abgenommen, hat die Knochen gerichtet und den Originalfuß wieder angesetzt. Ich trage jetzt die allerersten richtigen Schuhe meines Lebens.“ Wie sehr die Medizin sich seit seinen früheren Aufenthalten im Krankenhaus weiterentwickelt hat, sieht man deutlich an seinem Beispiel: „Bei dieser Operation vor zwei Jahren wurde ich freitags abends operiert und bin montags entlassen worden. Das war der Hammer.“ Seit die orthopädischen Spezialschuhe Geschichte sind, lebt er sein Leben noch mal neu: „Ich habe angefangen zu tanzen und mache viel Sport.“ Jens Seiler ist ein Mensch, der auch heute noch andauernd neues Wissen aufsaugt und alles immer 100%ig machen will.

Und er entwickelt sich weiter ...

Er hat viele Pläne. Seine Show wird momentan etwas weniger gebucht, weil viele mittelständische Unternehmen gerade kein Budget für solche Unterhaltungsprogramme haben. Doch nach einem harten letzten Jahr ist er motivierter denn je neue Dinge anzuschieben. Er programmiert neuerdings Webseiten und gibt weiterhin seine Seminare. Außerdem macht er aktuell eine Ausbildung zum Hypnotherapeuten, um Menschen mit Prüfungsängsten, die er immer wieder in seinen Seminaren trifft, beraten zu können. Und dann gibt es da noch diesen einen Traum: „Ich will auch mal einen Roman schreiben. Ideen liegen schon in der Schublade, aber noch ist die Zeit nicht ganz da. Aber wer weiß, vielleicht ja demnächst“, schmunzelt er zum Abschluss des Gesprächs. Im richtigen Kiez wohnt er als zukünftiger Romanautor jedenfalls schon mal.