Geballtes Wissen zwischen den Buchdeckeln und im Kopf: Den 30-bändigen Brockhaus kann Jens Seiler auswendig.
Sonntagsfrühstück mit Jens Seiler, dem schlauesten Mann Deutschlands.
Jens Seiler braucht weder Kalender oder Adressbuch noch Lexikon oder Einkaufsliste. Er hat alles im Kopf. Er hat nur selten eine Schule besucht und ist dennoch „der schlaueste Mann Deutschlands«. Eine Denker-Karriere und wie sie begann …
Endlich wieder ein Auftritt! Nach einer schweren Operation an den Füßen kann Jens Seiler wieder seinem Beruf als Gedächtniskünstler nachgehen und auftreten. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. „Ich kann barfuß im Nordseewatt laufen und ausgedehnte Wanderungen machen.« Jens ist glücklich wie noch nie. 47 Jahre lang konnte er nicht richtig gehen – doch dazu später.
„Nenn‘ mir dein Geburtsdatum und ich sage dir, welcher Wochentag es war.« Die Leute im Publikum rufen Jens ihre Daten zu: 5. Juli 1985, Jens der Denker antwortet sofort: „Das war ein Freitag«. 24. November 1936, die Lösung kommt prompt: „Dienstag.« Jens errechnet jedes Datum im Kopf, ob es in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegt. Die Leute staunen und die Show beginnt.
Mit verbundenen Augen lässt er sich von den Zuschauern eine Minute lang zweistellige Zahlen nennen und zu jeder eine Grundrechenart. Einer von ihnen steht auf der Bühne, um den Taschenrechner zu füttern. Die Konzentration ist spürbar, kein Ton zu hören. Die Zuschauer sind schnell. Jens nennt das Ergebnis, kurz bevor der Taschenrechner es preisgibt. Exakt bis auf drei Stellen hinter dem Komma. Jens nimmt die Augenbinde ab und jeder kann den Schweiß auf seiner Stirn sehen.
Jens der Denker und sein Publikum
Das Publikum einzubeziehen, ist Teil seiner Show. Jens Seiler ist nicht nur ein Gedächtnisgenie, sondern auch Entertainer. „Am schönsten ist für mich, wenn ich in die verblüfften Gesichter sehe«, sagt er. „Und die offene Frage darin: Wie macht er das bloß?« Jeder beliebigen Telefonnummer, die ihm zugerufen wird, ordnet Jens den passenden Familiennamen und die Straße zu, da wenden die Gäste schon mal neugierig ihre Köpfe im Saal. Jens lernt zuvor das Telefonbuch des Ortes, in dem die Show stattfindet, auswendig. „Ich lese die Seiten fünf Mal und dann hab‘ ich`s. Bei Berlin dauert es natürlich etwas länger als in Oranienburg.« Den Inhalt einer Tageszeitung gibt er nach zweimaligem Durchblättern wieder – wortwörtlich. Um sich eine 72-stellige Zahl zu merken, braucht er sechzig Sekunden.
Jens der Denker stellte mehrere Weltrekorde im Schnellrechnen und in der Gedächtniskunst auf, war im Guinness-Buch der Rekorde verzeichnet und bei seinem ersten Fernsehauftritt („Wetten dass…« 1986) tippte er 826 Anschläge pro Minute in eine Schreibmaschine – rückwärts! Sein erster Weltrekord.
Alles nur Show? „Nein«, sagt Jens. „Es ist in Wirklichkeit ganz einfach. Man muss nur die Grundlagen der Mnemotechnik beherrschen. Eine Art Gebrauchsanleitung für Gehirnarbeit.« Der Begriff (Mnemos ist griechisch und bedeutet Erinnerung) umfasst mehrere Lerntechniken, deren Ursprung etwa um 500 v. Chr. liegen. „Das Lernmaterial wird dabei so umfunktioniert, dass das Lernen Spaß macht.« Das ist der ganze „Trick«.
Die Vita von Jens der Denker
Dass Jens, der weder autistisch und inselbegabt ist, zu diesen Fähigkeiten kam, hat dennoch eine physische Ursache.
Seine Kindheit und Jugend verbrachte der gebürtige Niedersachse zum großen Teil in Krankenhäusern. Er war mit Füßen zur Welt gekommen, die nach hinten zeigen. Sie wurden wieder und wieder gebrochen, mehr als dreißig Operationen musste er über sich ergehen lassen. Bis zum sechzehnten Lebensjahr sah er keine Schule von innen, bekam Privatunterricht am Krankenbett, übersprang eine Klasse.
Jens konnte nicht laufen, toben, die Welt erkunden mit den anderen seines Alters. Doch er träumte davon. Er verschlang ein Buch nach dem anderen, interessierte sich früh für fremde Länder. Als er von einem Freund ein Buch über Alaska voller Zahlen und Fakten geschenkt bekam, begann er alles auswendig zu lernen. Das machte ihm Spaß. Bald wurde er zum Geografie-Ass, kannte alle Länder der Welt, die Städte, die Flüsse und Berge.
Er beherrschte Sprachen in kürzester Zeit – Englisch, Französisch und Spanisch, später auch Russisch. Wenn er heute in China, Japan oder anderswo unterwegs ist, lernt er zuvor in kürzester Zeit einen Basiswortschatz. „Ich kann natürlich die Vokabeln effektiver lernen«, räumt er ein. „Die Grammatik muss ich mir aber genauso aneignen wie jeder andere.«
Mit 18 begann er eine Ausbildung zum Parlamentsstenografen und arbeitete einige Jahre im Stuttgarter Landtag, bevor er die Beamtenlaufbahn aufgab und sich der Kleinkunst widmete. Nach einiger Zeit, die er mit Jonglieren und Zaubern verbrachte, besann er sich auf seine Stärken und kreierte „Die Show der Gedächtniskunst«.
Jens macht kein Geheimnis aus seinem Erfolg: „Das alles hat viel mit Motivation zu tun. Ich lerne, solange ich wach bin.« Wie überall sonst, braucht es viel Übung, sagt er. „Aber jeder, der Phantasie hat, kann es.«
In seinen Seminaren verrät Jens der Denker, wie es geht.
Jede Assoziation ist ein Bild und jede Verknüpfung zweier Dinge wird zur Minigeschichte gemacht. Die Geschichtenmethode ist die wirksamste Mnemotechnik, um sich auch größere Datenmengen einzuprägen. Ein Beispiel sind die Kanzler Deutschlands in der richtigen Reihenfolge:
„Ich gehe mit Konrad Adenauer die Treppe des Kölner Doms hoch. Unten höre ich Gelächter, weil Heinz Erhardt ein Gedicht erzählt. Ach nein, es ist Ludwig Erhard. Und die Leute lachen nicht. Sie sind erzürnt, ob seiner Wirtschaftspolitik. Sie bücken sich und heben Kieselsteine (Kiesinger) auf. Als sie die Kiesel nach vorne schmeißen, knallen sie in der Luft zusammen. Es kommt zu Funken, gar zum Brandt. Mit diesem Feuer schmieden (Schmidt) sie Waffen. Keine Speere. Nein, Kanonenkugeln, handgemacht, sehen aus, wie Kohlköpfe. Diese stopfen sie in eine Kanone und schröddern (Schröder) sie raus. Das Material verteilt sich über der Menge. Sie kramen es zusammen und gehen zum Reklameschalter, um die miese Qualität anzumerkeln.«
Jens hat zig Tausend Geschichten in seinem Kopf, die er in unvorstellbarer Geschwindigkeit abruft und miteinander verbindet.
Seit 2007 arbeitet er gemeinsam mit seiner Frau und Partnerin. Sandra La Cognata managt ihn, organisiert die Auftritte und die Seminar-Tourneen. Sie ist aber auch Teil der Show, als Team begeistern die beiden das Publikum. „Anfangs hatte ich fast Angst vor der Bühne.« sagt die sympathische junge Frau. „Aber inzwischen macht es Spaß und ich lerne ständig dazu.« Ohne Sandra wäre das alles kaum möglich, vor allem seit die beiden vor drei Jahren in Berlin einen Neustart wagten. „Ich kann mich einfach blind auf sie verlassen.« Gemeinsam führen sie die Seminare von und mit Jens durch, beispielsweise „Lernen lernen«, „Speedreading« oder „Namen und Gesichter merken«.
Und nur gemeinsam konnten sie die schwere Zeit überstehen, als Jens die ersten Schritte barfuß und ohne Stützen machte. Bis dahin musste sein linkes Sprunggelenk permanent stabilisiert werden. Kein Arzt, keine Klinik hatte den schweren Eingriff bis dahin gewagt. Dr. Henrik Boack, einem Fuß- und Gelenkspezialisten aus Berlin, der auch kriegsgeschädigte Kinder aus Afghanistan behandelt, ist die Operation 2012 geglückt.
Jens der Denker plant wieder jede Menge Show-Auftritte und Seminare. Vor allem aber genießt er sein neues Lebensgefühl. Am Sonntag liest er erst einmal ein paar Tageszeitungen auf dem iPad – im Bett. Dann kocht er Kaffee, bereitet Müsli mit Früchten und deckt den Tisch mit allem, was dazu gehört: Brötchen, Rührei, Schinken, Tomaten und Quark. Ein Buffet fast wie in den Hotels, in denen sie oft nach ihren Auftritten frühstücken. „Das Frühstück ist die Grundlage für den Tag – das muss einfach gut sein.« Jens denkt bei seinem Brainfood schon an die nächste Tanzstunde mit Sandra. Walzer, Foxtrott und Jive – Dinge, wovon er bis vor kurzem nur träumen konnte.
Märkischer Sonntag, 25. August 2013, von Claudia Rößger